Als wir Schwäne waren
Mitte der Achtziger flieht eine Familie aus Teheran nach Bochum. Die Mutter ist Soziologin, hat Sontag, Adorno, Habermas im Bücherregal stehen. Der Vater ist Dichter, der jetzt Taxi fährt und nicht müde wird seine pessimistische Sicht auf die Welt, insbesondere Deutschland, seinem heranwachsenden Sohn mitzuteilen. Meistens geht es um Stolz und Würde, was den Deutschen einfach gänzlich fehle. Die Eltern verstehen nicht, warum „Geiz geil“ sein soll. Warum Leute T-Shirts tragen, wo „Bier formte diesen Körper“ draufsteht. Und warum das Brot so schrecklich hart ist.
„Vater glaubt, dass die Roma der Grund sind, weshalb wir jetzt das kleinere Übel für unsere noch dagebliebenen deutschen Nachbarn darstellen, und dafür, dass sie uns jetzt hin und wieder grüßen, weshalb er die Deutschen zu verachten beginnt.“
Der Sohn ist der Erzähler, der uns mit seinen Augen durch den Roman führt. Als er zwölf ist, versammelt er sich mit den anderen Jungen der Nachbarschaft in einem Kellerraum, wo sie ein altes Sofa reingezerrt haben und ein Ninja-Buch verehren. Sie heißen Yassir, Silvio, Mike, Dimitri. Comics und Superhelden interessieren sie nicht mehr. Sie erkunden sich und ihre Wirkung auf andere, wie sie in einer Welt auftreten möchten, die nichts für sie bereit hält.
Der jugendliche Erzähler beschönigt nichts. Das erste Mädchen, in das er sich ein wenig verguckt, hat eine Sexarbeiterin zur Mutter. Ein Mitschüler wird von seinem Vater verprügelt und landet im Strudel einer Drogensucht. Auf der Baustelle, auf der er im Sommer arbeitet, haben die Kollegen Tattoos mit dem Auschwitz-Tor und SS-Runen und rufen ihn Ali, obwohl er nicht so heißt.
„Dimitri ist bei mir zu Besuch. Wir schauen MTV und es läuft der Go West-Clip von den Pet Shop Boys. Dimitri besitzt keinen Fernseher und sieht den Clip zum ersten Mal. Ich zum hundernsten. Er sieht rote Flaggen, Sputnik. Den roten Stern. Leninbüste. Stählerne Körper. Er sieht das volle Pathos des Ostblock Sozialismus überzogen mit Plastik und Glitter. Sieht seinen Kommunismus so tief in Pop getränkt, dass die dargestellten Soldaten und Arbeiter was von Badeenten haben. ‚Together‘, rufen sie. Es klingt russisch. Dimitri lächelt. Er nickt und dann sagt er: ‚Die sind gut, die kleinen Wichser.'“
Bei all der Härte, der Beschreibung von Armut, Gewalt und tragischen Schicksalen, bleibt der Erzähler ein vergleichsmäßig guter Kerl. Er beschreibt sich als jemand, der nicht im Aquarium schwimmt und auch nicht davor existiert. Sondern im Glas, in der Grenze dieser Welten. Er macht sein Abitur, dealt mit Gras und steht zu seinen Freunden. Bei denen er sich fragt, ob sie sich so nennen können oder ob sie nur die Verhältnisse zusammenschweißen.
Der Erzählton ist wunderbar literarisch, poetisch, roh und hat mich oft zum Nachdenken und Umdenken angeregt. Die kurzen Kapitel, die schnelle Erzählweise und der häufige Witz hat mich zudem sehr gut unterhalten und vieles gelehrt. Tolles Buch
(Laura Pawletko)
Informationen:
- Stand August 2024
- Hanser Berlin – gebunden – 192 Seite
- Preis: 22,- €
- ISBN: 978-3-446-28142-4