Das Wasser des Sees ist niemals süß
Während meines Sommerurlaubs habe ich wirklich viel gelesen und auch viel gutes, aber dieses Buch stach aus allen heraus. Es ist so ein Roman, wo einen nicht nur die Geschichte fesselt, sondern man auch immer wieder innehalten muss und bewundern, wieviel Mühe sich die Autorin und offensichtlich auch die Übersetzerin mit der Gestaltung der Sprache gegeben haben. Das zeigt sich selbst an den Kapitelüberschriften, wie z. B. „Böse sind die Menschen, die nie Schmerz empfunden haben“, „Die Welt ist ein zu kaltes Schwimmbecken“, „Im Sommer sterbe ich ein bisschen“, „Dieses Haus ist ein Desaster“ und auch „Heute Nacht ist der Mond vom Himmel gefallen“. Dass auf schöne und treffende Sprache so viel Wert gelegt wird, ergibt aber auch vollkommen Sinn, denn Bildung spielt eine entscheidende Rolle in diesem Roman: Es geht im weitesten Sinn um das Aufwachsen der Hauptfigur Gaia. Sie lebt mit ihrer Mutter, ihrem Vater, der nach einem Unfall auf der Baustelle im Rollstuhl sitzt, ihrem älteren Bruder und ihren jüngeren Zwillingsbrüdern zunächst in Rom und ihr Leben ist geprägt durch die Armut der Familie – tatsächlich ist die erste Wohnung, in der die Familie lebt, kaum als solche zu bezeichnen und wird auch eher von ihnen besetzt als legal bewohnt.
An dieser Wohnung – fünf Meter breit und vier Meter lang – mag ich den Betonboden und die Blumenbeete, auf denen nur Gras wächst, niemand hat je daran gedacht, hier Blumen zu pflanzen, und auch meine Mutter hat sich geweigert, denn pflanzen bedeutet bleiben.
Das Wasser des Sees ist niemals süß, S. 11f.
Das Wohnungsinnere, das ist eine Küche in einem Schrank, ist eine Liege, die man unter Marianos Bett hervorziehen kann, ist ein elektrischer Heizkörper, den man selten einschalten soll beziehungsweise nur, wenn es wirklich kalt ist, ist ein Beatles-Poster über den vier verschiedenen Stühlen und dem Tisch, an dem wir essen, ist, das Bett meiner Eltern quietschen zu hören, wenn sie es treiben, denn es gibt nur einen Raum, und du kannst nicht einfach rausgehen und kannst dich auch nicht einfach im Bad einschließen, denn auch vom Bett oder von draußen aus hört man alles. […]
H-A-U-S sagen wir, und es genügen uns wenige Striche, die Wände und das Dach, die Fenster und die Tür.
Die Familie bleibt tatsächlich nicht, nicht zuletzt aufgrund der Durchsetzungsfähigkeit ihrer Mutter Antonia, die sich auch von korrupten Beamten nicht einschüchtern lässt. So dürfen sie endlich eine Sozialwohnung in Rom beziehen, später eine andere außerhalb Roms am Lago di Bracciano. Für Gaias Mutter ist klar: Gaia soll irgendwann ein besseres Leben haben und der Weg dorthin ist Bildung. Gaia selbst ist begabt und wissbegierig, doch sie muss schnell feststellen, dass im Leben mehr zählt als nur Bildung. Finanziell mit den anderen nicht mithalten zu können sowie der durch die Mutter verursachte und wohl auch zum Teil schon anerzogene Leistungsdruck sorgen dafür, dass sich in Gaia zunehmend Wut anstaut, die früher oder später ihre Bahn bricht.
„Das Wasser des Sees ist niemals süß“, aber ausschließlich bitter ist es auch nicht. Sommer am See, Freundschaften, von denen manche zerbrechen und manche sich vertiefen, erste Lieben und das Auf und Ab des Erwachsenwerdens bilden den Rahmen für diesen Roman. Auf der Rückseite heißt es, „Das Wasser des Sees“ sei „ein berührender, zorniger, großer Anti-Bildungsroman“ und ich finde, das trifft es eigentlich sehr gut. Und damit auch Sie erleben können, wie wundervoll die Bilder sind, die Caminitos Roman im Kopf entstehen lässt, kaufen Sie am besten gleich ein Exemplar.
(Sarah Kranz)
Informationen:
- Stand: November 2022
- Wagenbach – gebunden – 320 Seiten
- Preis: 26,- €
- ISBN: 978-3-8031-3349-6