Der Inselmann

Ein Roman von Dirk Gieselmann

Ein kleines Buch mit einem großen Inhalt: Ein Ehepaar steht mit seinem Sohn am Ufer eines Sees und wartet auf den Fährmann. Dieser soll die Familie hinüberbringen auf eine einsame Insel. Dort möchten Hans‘ Eltern den Schäfer ablösen und auf dem verlassenen Fleck der Erde ein neues Leben beginnen.

„Es war so kalt, dass selbst der Wind fror. Um neun sollte der Kahn kommen und sie auf die Insel bringen: den Vater, die Mutter und den Jungen. Jetzt war es zwölf und noch immer kein Kahn in Sicht. Nahtlos und weiß stand der Himmel über dem See. Alles war eins, und alles war nichts.“

aus „Der Inselmann“, Seite 7

Dort angekommen erwartet die Familie allerdings eine bedrückende Atmosphäre: Der Schäfer ist verschwunden, seine Schafe sind teilweise verreckt, der Rest verwahrlost und ein räudiger Hund empfängt die drei neuen Inselbewohner. Überhaupt gibt es einiges zu tun auf der Insel. Doch der zehnjährige Hans blüht auf, denn hier in der Einsamkeit kann er endlich nicht mehr von seinen Mitschülern und Nachbarsjungen gehänselt und mißhandelt werden (diese Passagen werden immer wieder in Rückblicken eingestreut), hier kann er endlich angstfrei und für sich sein.

„Wo auf den weißen Flecken der Karte befand er sich bloß? In der Tundra, der Taiga, im ewigen Eis? Wo war die Mutter, wo war der Vater? Wo waren die Nachbarn? Dann fiel ihm der Kahn wieder ein, der Schiffer, die schwindenden Lichter im Dunkel, der See und die Insel. Sein neues Amerika. Noch einen Moment blieb er so liegen und befühlte den kostbaren Zustand. Er war jetzt da, wohin er gehörte: am anderen, richtigen Ende der Welt.“

aus „Der Inselmann“, Seite 42

Doch es kommt wie es kommen muss: Hans kann sich nicht ewig verstecken, er wird eines Tages vom Staat dazu aufgefordert, die Volksschule zu besuchen. Das bedeutet, er rudert tagtäglich eine Stunde, um zum Unterricht zu gelangen. Schnell wird er der Schule und der Mitschüler überdrüssig, Hans versucht, in die Einsamkeit zu flüchten, doch dies macht alles nur noch schlimmer. Hans wird nicht nur von seinem Vater gezüchtigt, sondern letztendlich in ein schreckliches Jugendheim gebracht.

„Die Burg war ein großer, roter Klotz, den ein kolossales Kind einst hatte fallen lassen, als ihm die Lust an seinem Spiel vergangen war. Sie lag jetzt inmitten dieser Ödnis: ein Ziegelbau mit kleinen Fenstern, durch die kaum ein Lichtstrahl drang. Hohe Mauern, Stacheldraht und Dornenhecken drumherum: ein Knast für Jungen, die gebessert werden sollten. Jungen wie Hans Roleder, elf Jahre alt, der nicht zur Schule gehen, sondern frei sein wollte. Der König seiner Insel, hier war er Untertan. Seine Zukunft war wie eine Vase, die herunterfiel: noch nicht zerbrochen, nicht mehr heil.“

aus „Der Inselmann“, Seite 109

Wie es danach weitergeht, was Hans noch alles widerfährt, ob er es zurück auf „seine“ Insel schafft, all dies dürfen Sie dann gerne selber herausbekommen, denn alles möchte ich natürlich nicht verraten. Nur so viel: Der Inselmann hat mich tief beeindruckt. Anfangs grübelt man noch, wo und wann die Geschichte spielt, aber schnell merkt man, dass dies gar keine wichtige Rolle spielt. Alleine die Sprache von Dirk Gieselmann zieht einen hinein in die kleine Welt von Hans und seiner einsamen und entfernten Insel. Und besonders ist auch die Erzählweis ein, besonderes schön (und gar nicht kitschig) so viel Sätze wie zum Beispiel:

„Dann kam die Nacht über den See und raubte den Dingen die Farben. Ein paar retteten sich noch eben ins Haus. Gelb, Orange, ein schwaches Rot: der Kerzenschein, die Glut im Ofen, das Blut in den Wangen.“

aus „Der Inselmann“, Seite 46

Melancholisch und berührend, und wie der Verlag treffend schreibt: „Ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen“ Oft habe ich mich an den beeindruckenden Roman des leider verstorbenen Österreichers, Gerhard Jäger erinnert („All die Nacht über uns“), vielleicht erinnert sich noch jemand daran?! Auf alle Fälle ist „Der Inselmann“ ein besonderes Frühjahrs-Highlight für mich!

(Georg Schmitt)

Informationen:
  • Stand: Februar 2023
  • Kiepenheuer und Witsch Verlag – gebunden – 176 Seiten
  • Preis: 20,- €
  • ISBN: 978-3-462-00025-2
  • Link zur Leseprobe: HIER

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