Die Zeit im Sommerlicht

Ein Roman von Ann-Helén Laestadius

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Welch ein gelungener, wundervoller Roman uns hier vorliegt. Mir hat die Geschichte sogar noch besser gefallen als Laestadius‘ Vorgänger „Das Leuchten der Rentiere“. Es geht wieder einmal um die Samen, das indigene Volk aus dem Norden Skandinaviens und der Hintergrund der Story ist erneut ein trauriger:

„Meine Mutter und größere Teile meiner Familie sind auf die Nomadenschule gegangen. Das hat immer wie schwarze Wolken über mir gehangen. Es war etwas, über das man nicht gesprochen hat. Das hat ganz viel in mir gearbeitet und hat Angst und Fantasien ausgelöst. Was war es genau, das sie erlebt haben? Hier und da hörte ich, wie darüber gesprochen wurde, aber keiner wollte das genau erzählen. So habe ich verstanden, dass da etwas ganz Furchtbares passiert sein muss.“

Ann-Helén Laestadius

Die Samen in den 1950ern: Sie wurden abwertend als Lappen bezeichnet, im Grundschulalter wurden etliche Kinder in Internatsschulen gesteckt, wo ihnen sämtliche samische Wurzeln ausgetrieben werden sollten. Sie durften ihre Muttersprache nicht sprechen; den besonderen Gesangsstil, den Jojk nicht ausüben, all dies wurde als Sünde angesehen und stand bei Anwendung unter harter Strafe. Was das mit den Kindern gemacht hat, erzählt Ann-Helén Laestadius höchst eindrucksvoll in ihrem neuen Roman.

Im Mittelpunkt stehen fünf Kinder, drei Mädchen und zwei Jungen, die die Schrecken in der Schule unter Rita Olsson, der Heimleiterin erleben. Wie sie diese verarbeitet haben, erfahren wir durch die zweite Erzählebene, wenn uns Frau Laestadius an den Geschichten der fünf Menschen im Jahre 1985 teilhaben lässt:

1950: Anne-Risten, Else-May, Marge, Jon-Ante und Nilsa sind die Kinder, die im Internat gezwungen werden, neue Namen anzunehmen und nur noch schwedisch zu sprechen. Ihre Eltern sehen sie höchstens in den Ferien. Doch die Scham ist dermaßen groß, dass sie sich den Anghörigen nicht anvertrauen können und die Erlebnisse mit sich selber ausmachen müssen. Im Internat herrscht die strenge Heimleiterin Rita Olsson, sie schikaniert und behandelt die Kinder mit Eiseskälte, Schläge sind an der Tagesordnung. Alleine die Erzieherin Anna, die selbst Samin ist, versucht, die Kinder zu behüten, bei ihr finden sie Wärme und Schutz. Doch eines Tages taucht Anna nicht mehr in der Schule auf. Was ist nur mit ihr geschehen?

1985: Ann-Risten hat inzwischen einen Schweden geheiratet, sie selber versucht, ihre samische Identität komplett zu verheimlichen. Marge adoptiert ein Mädchen aus Südamerika, schnell jedoch merkt sie, wie sie diese Situation mit einem Kind aus einem völlig anderen Land mit einer völlig anderen Identität überfordert. Jon-Ante (meine Lieblingssfigur!) führt nach außen hin ein normales, ein glückliches Leben, aber man merkt, dass er die Vorfälle in der Schule damals überhaupt gar nicht verarbeitet hat, auch körperlich sind schlimme Spuren zurückgeblieben.

Und dann kommt es plötzlich zu schrecklichen Ereignissen: Einerseits nimmt Anna Kontakt zu einigen Kindern von damals auf, damit wird die qualvolle Vergangenheit erneut heraufbeschwört, zum anderen fängt Marge als Altenpflegerin an und soll sich eines Tages um eine Frau kümmern, die sie als Rita Olsson wiedererkennt. Auch Nilsa begegnet seiner alten Heimleiterin zufällig beim Einkaufen in der Stadt…

Hier kommt nun der Originaltitel des Buches zum Tragen: „Straff“ im schwedischen, also Strafe oder Bestrafung im deutschen. Werden die fünf Menschen Rache ausüben, Rita Olsson für all die Mißhandlungen bestrafen?

„Die Zeit im Sommerlicht“ ist ein dichter, feinfühliger und ein mitreißender Roman. Durch die Perspektiven- und Zeitwechsel entsteht ein unheimlicher Sog. Für mich gehört dieses Buch zu meinem absoluten Jahreshighlight 2024!“

Georg Schmitt
Informationen:
  • Stand: April 2024
  • Hoffmann und Campe Verlag – gebunden – 480 Seiten
  • Preis: 26,- €
  • übersetzt aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt
  • ISBN: 978-3-455-01708-3
  • Leseprobe: LINK
Bücherwurm der Buchhandlung am Sand