Dünnes Eis

„Dünnes Eis“ war einer der ersten Romane, den ich für diesen Herbst 2023 gelesen habe, und schon kurz nach dem Anfang dachte ich, ein Glück, im Gegensatz zum Frühjahr werde ich keine Probleme haben, Lesezeit-Material zu finden. Stolze 99 Jahre alt, macht Marietta sich eigentlich nichts aus Geburtstagen, doch kurz vor ihrem 100. Geburtstag gerät sie zunehmend ins Grübeln.
Marietta lebt in einer Seniorenresidenz, hat eine große Leidenschaft für Bücher und ist ein herzensguter Mensch, aber in fast 100 Jahren erlebt man natürlich so einiges, vieles davon schön, vieles aber auch nicht, und man überlebt leider auch so einige Menschen – wie zum Beispiel ihre Zimmernachbarin und Freundin Gisela. Was ich so schön an diesem Buch fand, abgesehen von Marietta selbst und dem Stil, in dem das Buch geschrieben ist, ist, dass Marietta ihre Geschichte selbst erzählen darf. Man erlebt, was sie tagtäglich so umtreibt – übereifrige Journalisten, die einen Bildband über die „Würde des Alters“ herausbringen wollen, ehrliche interessierte Praktikantinnen beim Lokalblatt, die den Artikel über die bald 100-jährige aufs Auge gedrückt bekommen haben, der Alltag in der Resi, wie sie die Bewohner nennen, aber auch ihr merkwürdiger neuer Nachbar, der sich hauptsächlich durch seine Unfreundlichkeit und sein Hitlerbärtchen auszeichnet, und der Junge aus der Geflüchtetenunterkunft nebenan, der sehr viel in Marietta wachrüttelt – denn auch sie hat einen Fluchthintergrund und auch sie hatte einmal einen kleinen Jungen.

Und das ist eben auch Teil des Romans, die Momente, in denen Marietta innehält und sich erinnert und reflektiert, was damals geschehen ist – und das darf sie selbst machen, aus ihrer Perspektive viele Jahre später, ohne das jemand, der ihre Erfahrungen nicht gemacht hat, die Geschichte wieder ausgräbt.
Das ist natürlich nicht immer alles fröhlich, aber es hilft Marietta Schritt für Schritt, mit dem, was war, abzuschließen. Und ihre Gegenwart ist im einfachsten Sinne gut, sie hat immer noch Ziele im Leben, sie will immer noch anderen helfen und hat sich ihren ganz eigenen Sinn für Humor bewahrt. Ein wirklich schönes Buch, das uns auf wunderbare Weise teilhaben lässt an Mariettas bewegtem Leben.

(Sarah Kranz)

Informationen:

• Stand: Dezember 2023
• Dörlemann Verlag – gebunden – 288 Seiten
• Preis: 23,- €
• ISBN: 978-3-03820-132-8