Im Dezember der Wind

Ein Roman von Marvel Moreno

Wie ein fantastisches Buch vorstellen, das sich beim besten Willen nicht als „leichte Lektüre“ verkaufen lässt? Auf die eine oder andere Art wird es im Folgenden trotzdem passieren, denn Marvel Morenos „Im Dezember der Wind“ ist etwas derart Besonderes, dass einmal mehr bewiesen ist: Ein Buch muss nicht leicht lesbar sein, um einen bleibenden (positiven) Eindruck zu hinterlassen, man muss es nur wollen. Vorab ein kleiner Fragebogen:

  1. Suchen Sie leichte Lektüre voller Sonnenschein und Kindergelächter? Dann suchen Sie sich ein anderes Buch von unserer Website, wir haben genug Alternativen.
  2. Definieren Sie sich als Person, die mit Kritik an patriachalen Strukturen und/oder der Psychoanalyse überhaupt nicht umgehen kann? In diesem Fall empfehle ich, wenn Sie nicht auf der Suche nach einer Horizonterweiterung sind, ebenfalls, nach einer Alternative zu suchen.

Keine Sorge, die Frauen des Romans kommen auch nicht alle gut weg, genauso wie es dort auch einige freundliche Männer gibt. Genug der Vorrede.
Wir begeben uns ins Kolumbien des letzten Jahrhunderts, spezifisch nach Barranquilla, mitten in die Elite der Gesellschaft, die größtenteils von ehemals europäischen Auswanderern abstammt. Erzählt wird aus der Perspektive von Lina, die anhand der Geschichten ihrer drei Freundinnen Dora, Catalina und Beatriz vom Aufwachsen in dieser Umgebung berichtet. Auch wenn für diese gehobene Gesellschaft eindeutig andere Regeln gelten als für alle anderen, ist das Leben als Mädchen und Frau keineswegs leicht, und so sind Kindheit und Jugend geprägt von Gewalt, Demütigung, dem Wunsch nach Freiheit, fragwürdigen Erziehungsmethoden und konstanter Sexualisierung. Moreno nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, weder die Ereignisse noch der Blick, den Linas durchaus emanzipierte Großmutter und Tanten daraufwerfen, werden in irgendeiner Weise beschönigt. Sprache wie auch Analysen sind bissig, sarkastisch – ehrlich.

Es ist ein Roman voller Emotionen, und so ungerne ich Romane mit Speisen oder Getränken vergleiche, so musste ich doch immer wieder an diese eine heiße Schokolade denken, die ich einmal getrunken habe, die wirklich aus purer geschmolzener, dunkler Schokolade bestand, und aufgrund deren Süße und Dicke man sie unmöglich in einem Rutsch trinken konnte – Schluck für Schluck war sie aber köstlich. Ähnlich verhält es sich mit diesem Roman: Er ist unglaublich viel auf einmal, er ist dicht, selten hat ein Satz weniger als fünf Zeilen, oft mehr, er erschafft Bilder und zerstört sie wieder, er zeigt alles Schöne und Schreckliche, er erzählt Geschichten, die trotz eines fast identischen gesellschaftlichen Gerüsts und wiederkehrender Strukturen unterschiedliche Wege nehmen, er ist, man muss es so sagen, ein Ereignis.

Wenn Sie an dieser Stelle noch nicht abgeschreckt sind, dann kaufen Sie dieses Buch. Es ist Arbeit, es zu lesen, zumindest wenn man mit einer geringen Konzentrationsfähigkeit gestraft ist wie ich, aber es ist Arbeit, die belohnt. Für mich ist es eindeutig eines der Bücher, an die ich noch sehr, sehr lange denken werde – und vielleicht sogar eines Tages, sollte aus irgendeinem Grund der Stapel mit noch zu lesenden Büchern etwas geschrumpft sein, mit Freude noch einmal lesen.

(Sarah Kranz)

Informationen:
  • Stand: September 2023
  • Wagenbach Verlag – gebunden – 432 Seiten
  • Preis: 32,- €
  • ISBN: 978-3-8031-3354-0
  • aus dem kolumbianischen Spanisch übersetzt von Rike Bolte
Bücherwurm der Buchhandlung am Sand