Niemals ohne sie
„Niemals ohne sie“ (2001 in Kanada) ist das zweite der vier Bücher der kanadischen Autorin Jocelyne Saucier, das nun auf deutsch erschienen ist. Jocelyne Saucier (geboren 1948) ist eine kanadische Schriftstellerin französischer Sprache. Sie lebt seit 1961 im Westen der Provinz Québec. „Ein Leben mehr“ (2011 in Kanada, 2015 in Deutschland) war 2016 im Ausland (in seinen ca. 12 Übersetzungen) das meistverkaufte Buch eines kanadischen Autors.
Und nun erschien also das ältere Buch „Niemals ohne sie“, von Sonja Finck und Frank Weigand ins Deutsche übersetzt. Es ist die Geschichte der Familie Cardinal, an der recht wenig gewöhnlich ist. Sie haben tatsächlich 21 Kinder und leben für die Zinkmine, die der Vater in der kleinen kanadischen Stadt Norco entdeckt hat. Reich sind sie trotzdem nicht, da der Vater sich von der Minengesellschaft hat übers Ohr hauen lassen, aber sie träumen ständig davon. Die Eltern sind fast immer abwesend, der Vater ist mit seinen Steinen und die Mutter mit ihren Kochtöpfen beschäftigt. Aber die Kinder sind stark und halten zueinander, sie sind „die Kings“, außer ein paar Landeiern gibt es niemand wichtigen in der Gegend und so genügen die Kinder sich selbst, bis eine der Töchter aus der Bahn ausschert und sich alles dramatisch verändert.
Als sich sämtliche Familienmitglieder erstmals nach 30 Jahren wieder treffen, weil der Vater doch noch, nach all den Jahren, eine Medaille verliehen bekommen soll, scheint die Wahrheit ans Licht zu kommen, falls sie denn je verborgen war.
Im Buch kommen nacheinander einige der Kinder zu Wort und schildern die Situation und das Ereignis, das alle zu vertuschen zu versuchen in Rückblenden aus ihrer jeweiligen Perspektive. Man gerät immer tiefer in einen Strudel aus Loyalitätskonflikten und Abhängigkeiten und im Verlauf des Buches wird einem die Tragweite dieser zerstörerischen Elemente immer bewusster und die Tragik all dessen wird nach und nach deutlich.
Ein ganz ganz starkes Buch, sehr atmosphärisch, voller wunderbar tief gehender Beschreibungen, das mich besonders durch die eindringliche Schilderung der Familiensituationen beeindruckt hat.
“ Sie ist ein ungreifbares Geschöpf, das für uns nur dann wirklich existierte, wenn sie nachts neben unserem Bett auftauchte, das lange Haar gelöst, den knochigen Körper in ein Nachthemd gehüllt, das sie weich wie Nebel umgab, das grellrote Licht der kleinen Taschenlampe, die sie auf ihre nächtlichen Wanderungen mitnahm, gegen die Handfläche gerichtet, um uns nicht zu wecken.Die geisterhafte Gestalt unserer Mutter spukte durch unsere Nächte und verfolgt uns bis heute. Manchmal, wenn ich allein im Bett liege, in meinem kleinen Zimmer in dem Hotel, in dessen Küche ich mich sechs Tage die Woche abrackere, warte ich auf sie. Das Zimmer ist genauso runtergekommen wie mein Zimmer damals in Norco. Ich bilde mir ein, die Dielen im Flur leise unter ihren Schritten im Flur knarzen zu hören – ich rolle mich unter der Bettdecke zusammen – sie steht vor meiner Tür, öffnet sie lautlos – ich frage mich, ob ich den Atem anhalten soll -, sie nähert sich dem Stuhl am Fußende meines meines Bettes und lässt sich auf dem Kleiderhaufen nieder, der dort liegt, und dann kommt der Moment, den ich so sehr liebe, sie sieht mich an, mich, Émilienne, ihre älteste Tochter, ich bin acht, fünfzehn, einundzwanzig Jahre alt – ich bin dreiundfünfzig Jahre alt -, und sie sieht mich an, mich, ihr Kind.Manchmal nickte sie auf dem Stuhl ein und ich wagte nicht, mich zu rühren, bis mir die Arme und Beine taub wurden. Lag ich auf dem Rücken, konnte ich sie am besten beobachten, allerdings war das auch am unbequemsten. Wenn ich Glück hatte, schlief ich bei der Betrachtung meiner schlafenden Mutter selig ein.In diesen Momenten hatte sie eine Sanftheit, eine derartige Anmut, dass ich meinte, Besuch von einem Engel zu haben. Die Härte ihrer Züge, die Sorgen, die ihr Gesicht zerfurchten, die Herbheit des Tages waren verschwunden, wie war zur Ruhe gekommen, ein kleines Lächeln auf den Lippen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, das lange Haar eingerahmt von Mondlicht, „eine echte Madonna“, und der schwache rote Schein, der von ihrer Handfläche ausging, fiel auf ihr Nachthemd und breitete sich über ihren Körper aus.“„Eine echte Madonna. Ich konnte nicht einschlafen, bis sie mir erschienen war.“
(Katja Cebulla)
Informationen:
- Stand: März 2019
- Insel Verlag – gebunden – 255 Seiten
- Preis: 20 €
- ISBN 978-3-458-17800-2