Perlen
Wenn sie plötzlich hier auf dem Friedhof stünde und nicht gleich wüsste, wer ich bin, würde ich ein Lied für sie singen. Ich würde ihr „Green Gravel“ vorsingen. Manchmal singe ich es auch einfach so für sie, wenn ich Wäsche aufhänge oder abends allein im Auto sitze. Für mich ist es mein Lied, obwohl ich inzwischen erwachsen genug bin, um zu wissen, dass es um einiges älter ist als ich, um einiges älter auch als das Baby, für das meine Mutter es vor so vielen Jahren gesungen hat.
Hughes, Perlen. S. 9
Acht Jahre alt ist Marianne, als ihre Mutter geht und nicht mehr in das Haus mit dem verwilderten Garten zurückkehrt. Zurück bleiben Marianne, ihr Bruder und ihr Vater – und Erinnerungen an eine liebende Mutter. Was genau passiert ist, was die Gründe waren, ob es überhaupt ein Motiv gab, ob sie nicht vielleicht doch noch irgendwo da draußen ist, all diese Fragen begleiten Marianne ein Leben lang. Es ist ein kleines Dorf, in dem die Familie lebt, und die Leute reden.
Obwohl die Abwesenheit ihrer Mutter Marianne beinahe physisch über die Jahre ihres Aufwachsens begleitet, verändert sich ihr Blick auf das Geschehene, intensiviert sich in dem Moment, in dem Marianne selbst Mutter wird. Sie blickt zurück auf die vergangene Zeit und erzählt sowohl von ihrem Leben als auch von der Liebe, die sie für ihre Mutter empfindet. Die Jahre, die auf ihr Verschwinden folgen, sind unstetig und emotional: Erst ein scheinbar unerklärlicher, stiller Rückzug, dann die volle Wucht des Ausbruchsversuchs aus dem eigenen Zuhause, der eigenen Haut. Es ist ein Ringen mit sich selbst und dem fremdbestimmten Schicksal, das erst ganz langsam von wiederkehrenden Ruhemomenten unterbrochen wird und schließlich auch Antworten auf unbeantwortete Fragen bringt.
Ein wunderschöner Roman, der zartfühlend von Verlust und Sprachlosigkeit erzählt, aber auch der Wut der Zurückgelassenen einen Raum gibt. Mit viel Nachsicht und Verständnis lässt Siân Hughes Marianne auf ihre Entwicklung blicken und erschafft so eine Art poetisch-reflektierten Coming-of-Age-Roman, der anderen Titeln des Genres sowohl sprachlich als auch inhaltlich weit voraus ist.
(Sarah Kranz)
Der Duft der Hände meiner Mutter, minzig, blättrig, wenn sie mich abends ins Bett brachte und mich noch ein bisschen neckte: „Oh what care I for my goose-feather bed, with the sheets turned down so bravely-oh!“ Mein ganzes Leben lang habe ich jedes Laken genauso wacker-oh festgesteckt.
Hughes, Perlen. S. 18
Informationen:
- Stand: Mai 2025
- DuMont Buchverlag – gebunden – 272 Seiten
- übersetzt von Tanja Handels
- Preis: 23,00 €
- ISBN: 978-3-7558-0008-8