Sekunden der Gnade
Lehane kennen einige von Ihnen vielleicht schon, er ist unter anderem der Autor von „Shutter Island“ (genau, das wurde ver oder „Der Abgrund in dir“, was Frau Gesterding bei einer anderen Lesezeit vorstellte – um nur zwei Titel aus einer doch sehr langen Liste zu nennen. Er ist bekannt für Kriminalromane, und auch „Sekunden der Gnade“ ist so spannend, dass es fast ein Krimi sein könnte, einen Polizisten gibt es auch; trotzdem ist das Buch auch noch viel mehr: Gesellschaftsroman, Familienroman, Historienroman… Nun ja, es steckt viel drin in dem Buch. Wir sind uns nicht mehr wirklich einig, wer es zuerst gelesen hat, vermutlich war es doch auch Katrin Gesterding, die mich dann entweder angestiftet hat oder mit der ich mich einfach über das Buch unterhalten habe, nachdem ich ebenso begeistert war wie sie. Und Georg Schmitt fand es auch fantastisch, der brauchte aber etwas länger, um zum Buch zu kommen und hätte es fast nicht eingekauft.
Worum geht es also in „Sekunden der Gnade“? Der Roman spielt in Boston im Jahr 1974, die Zeit der Bustransporte. Schwarze Kinder sollen in Zukunft mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und andersherum und wie wir alle wissen, wäre die Aussage „das traf nicht überall auf Begeisterung“ noch milde formuliert. Die Geschichte beginnt in einem Viertel, in dem hauptsächlich Menschen mit irischem Hintergrund leben. Dort ist es nicht nur unruhig, dort brodelt der Hass. Die Verachtung Schwarzer Menschen wird den Kindern von Anfang an mitgegeben, aber auch in anderen Bereichen läuft in der Gegend einiges falsch: Schutzgeldzahlungen, organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Armut. Mary Pat Fennessy ist eine der Frauen, die in dieser Gegend leben, und sie steht den anderen in nichts nach. Bis ihre Tochter verschwindet. Und kurz darauf ein Schwarzer Junge tot an den Gleisen aufgefunden wird. Und ihre Tochter möglicherweise etwas mit seinem Tod zu tun hat. Mary beginnt, Fragen zu stellen, weil ihr klar wird, dass viele um sie herum wissen, was mit ihrer Tochter passiert ist, sie beginnt zu hinterfragen, was der Drogenhandel in ihrer Gemeinschaft eigentlich anrichtet, und langsam, aber sicher, beginnt sich ihre Sicht auf die Dinge ganz allgemein zu ändern.
„Sekunden der Gnade“ ist kein subtiler Roman. Es ist ein Roman voller Hass, es ist ein Roman voller Wut, und Mary Pat geht mit einer so enormen Zielstrebigkeit und Rücksichtslosigkeit auf eigene Verluste ans Werk, dass der ermittelnde Kommissar sich abwechselnd die Haare raufen und den Hut vor ihr lüften möchte. Auf jeden Fall ist es eine ganz klare Leseempfehlung, denn selbst wenn dieser Roman, wie Lehane im angehängten Interview überlegt, sein letzter Roman sein sollte, zeigt er hier noch einmal: Spannung kann er, und Menschen kann er auch.
(Sarah Kranz)
Informationen:
- Stand: Dezember 2023
- Diogenes Verlag – gebunden – 400 Seiten
- Preis: 26,- €
- ISBN: 978-3-257-07258-7
- übersetzt aus dem Englischen von Malte Krutzsch