Alpha Bravo Charlie

Ein Roman von Tine Melzer

Das ist bisher mein Lieblingsbuch in diesem Jahr (wir haben jetzt April). Schon für unsere Lesezeit habe ich lange hin und her überlegt, ob ich das Buch vorstelle, denn es ist klein und dünn und gebunden, was, egal wie toll der Inhalt ist, viele Leute abschreckt. Glauben Sie mir, ich verstehe das. Es ist aber auch wirklich, wirklich schön. Wir folgen einem älteren Herrn, Johann Trost, ehemaliger Pilot und nun in Rente, geschieden, aber wie lange und ob ihm das wirklich so recht ist – wir wissen es nicht. Jedenfalls hat man als Pilot ja einen gewissen Status, vielleicht sogar Bedeutsamkeit und die ist nun weg. Stattdessen im Überfluss: Zeit. Die man irgendwie füllen muss. „Alpha Bravo Charlie“ lädt uns ein, einen Tag lang am Handeln und Denken dieses Mannes teilzuhaben. Dazu gehört auch der Bau einer Landschaft für eine Modelleisenbahn, denn das bietet sich ja an für einen Mann mit zu viel Zeit.

Als ich meinem Neffen einmal ein Schlaflied sang, ergriff mich eine Traurigkeit, die mich seither nur selten loslässt. Sie lockert ihren Griff nur beim Anblick frischer Prussiens, beim Tanz mit einem Fremden und wenn ich im Radio zufällig die Goldbergvariationen höre. Onkel sein, aber kinderlos, ist eine gute Rolle für mich. Ein paarmal im Jahr kann ich einem Kind ein Eis kaufen und es ein-, zweimal auf dem Riesenrad fahren lassen. Das hilft gegen die Langeweile. Als pensionierter Kurzstreckenpilot bleibt mir sonst wenig zu tun. Ein ehemaliger Busfahrer der Lüfte, ein ehemaliger Ehemann. Zivile Luftfahrt klingt so friedlich, dabei sind viele Flugpassagiere zu Hause unausstehlich.

S. 7

Was dieses Buch so besonders macht, ist letztlich aber wirklich die Sprache, die Formulierungen und immer wieder die Gedanken des Protagonisten, auch wenn man sicherlich nicht in allen Punkten mit ihm übereinstimmen muss. Ich habe relativ lange an dem Buch gelesen, weil man sich Zeit nehmen sollte, die Sätze auf sich wirken zu lassen. Es gibt hier so einen feinen, hintergründigen Humor und viele Gedanken, die sich besser entfalten, wenn man sie auf sich wirken lässt. Eine sprachlich wunderbar verpackte Feldstudie, ein Stadtpanorama aus dem Blickwinkel eines älteren Mannes, der etwas den Halt verloren hat, eine Art Wiedererweckung des Flaneurs, nur dass er nicht nur durch die Stadt spaziert, sondern auch ein bisschen durch sein eigenes Leben. Als ob das nicht genug wäre, gibt das Ende der Geschichte noch einmal einen besonderen Twist – und nicht viele Bücher schaffen es, ein Ende zu finden, das einem wirklich in Erinnerung bleibt.

Nein, ich bin nicht einsam und nicht immer ganz allein, ich gelte sogar als sozial. Manchmal ist ein ehemaliger Kollege zu Besuch in der Stadt, der sich auf das Museum und die Bar am Wasser freut und gerne eine Nacht länger bleibt als geplant. Am nächsten Morgen bringe ich dann Kräutertee ins Gästezimmer, obwohl sich der Schlafgast nach einem doppelten Espresso sehnt. Auch ein Gastgeber hat mal schlechte Laune. Ich werde nächstes Mal im Bett bleiben, wenn ich aufstehe.
Der Freund ist treu und kommt immer wieder, pünktlich zur Kunstmesse, wo meine Exfrau ihre neuen Werke zeigt. Jahr um Jahr ist er bei mir zu Gast und schwärmt von ihr, bis die Nacht und zwei Flaschen Wein zur Neige gehen. Zu zweit lassen sich Verluste leichter ertragen. Dieser alte Freund war in allem besser als ich. Letztes Mal hätte ich ihn fast nicht erkannt, weil er plötzlich Haare hatte. Er sah unmöglich aus, so ohne Glatze.

S. 77

(Sarah Kranz)

Informationen:
  • Stand: April 2023
  • Jung und Jung Verlag – 128 Seiten – gebunden
  • Preis: 21,- €
  • ISBN: 978-3-99027-275-6
Bücherwurm der Buchhandlung am Sand